Einordnung: Road Movie Roman mit Götterkomplex

Tsu sagt: Angenehme Urban Fantasy, die ihrem Hype nicht gerecht wird
American_GodsIm Jahre 2001 erschien American Gods von Neil Gaiman und heute, knapp 15 Jahre später, hat das Werk nicht nur einen Kultstatus erreicht, sondern ist mit der für 2017 geplanten TV-Serienadaption aktueller als je zuvor. Höchste Zeit also, sich mal persönlich mit den vergessenen Göttern in diesem Roman vertraut zu machen und ihren Geschichten zu lauschen. Lauschen? Ja, denn American Gods habe ich mir über 22 Stunden als ungekürztes Hörbuch, gelesen von Stefan Kaminski, zu Gemüte geführt.

In American Gods begleiten wir den frisch aus dem Gefängnis entlassen “Shadow”. Von seinem Leben ist nach dem Tod seiner Frau und seines besten Freundes nicht mehr viel übrig, und so nimmt er den Job des mysteriösen Mr. Wednesday an, ihn als Fahrer, Bodyguard und rechte Hand zu begleiten. Schnell offenbart sich nicht nur, dass es sich bei dem einäugigen Mr. Wednesday um Odin selbst handelt, sondern auch, dass es in Amerika noch viele andere alte Götter gibt, die ihren Platz in der neuen Welt eingenommen haben.

Doch nicht nur die Götter vergangener Tage wandeln leibhaftig auf Erden, auch neue und mit wesentlich mehr Zuspruch durch die Menschen gesegnete Götter sind Realität: Die Götter der (Daten-)Autobahn, der Finanzen und der Medien, um nur einige zu nennen.

Begleitet von Shadow zieht Mr. Wednesday durch Amerika, um die alten Götter für eine große Schlacht gegen die Emporkömmlinge zu sammeln und gegen das eigene Vergessen und Leben in der Bedeutungslosigkeit anzukämpfen. In diesem Götterepos spielt Shadow nicht nur eine andere Rolle als es zunächst scheint, auch der eine oder andere Akteur hat seine eigenen Pläne und Ziele.

Neil Gaiman schafft es, einen interessanten Mix aus Thriller, Urban Fantasy und Roadmovie zu präsentieren, in dem er die Faszination typisch amerikanischer realexistierender Lokationen mit klassischer und moderner Mythologie vermischt. Zahlreiche Nebenschauplätze und Nebenerzählstränge sorgen für ein detailreiches Bild in einer bis dato seltenen Komposition.

Die philosophischen Fragen nach der eigenen Vergangenheit, der Definition der Rolle in der Gesellschaft und Veränderung der selbigen über die Zeit zusammen mit einer gewissen Kritik am Selbstbild Amerikas sorgen für eine angenehme Tiefe.

Und trotzdem konnte mich American Gods nicht komplett überzeugen. Warum?

Viele der Handlungsstränge im Buch gehen verloren und werden entweder gar nicht mehr aufgegriffen, versanden oder sollten, wie man später merkt, nur zur Untermalung der Stimmung benutzt werden. Das hinterlässt bei mir als Hörer einen unzufriedenen Eindruck. Einige hätte man komplett weglassen können, andere hätten mehr Aufmerksamkeit verdient.

Selbst das Finale von American Gods wirkt erschreckend unorganisiert, antiklimaktisch, und anstatt das Buch mit dem Ende der Hauptgeschichte zu krönen, folgt ein weiterer Blick auf sprichwörtliche Nebenkriegsschauplätze. Der Epilog weist für meinen Geschmack zu wenig Klasse auf, um den Hörer mit einem zufriedenen Gefühl den Roman ausklingen zu lassen. Ganz im Sinne eines Road Movies ist der Weg wesentlich belohnender für den Leser als die Ankunft am Ziel bzw. das Finale.

Der spirituelle und mythologische Hintergrund von American Gods erlaubt es, dass nicht alle Szenen einer gewissen Logik folgen müssen. Die Grenze bei der Benutzung dieses Stilelements schweifen allerdings zu oft in ein inneres Kopfschütteln meinerseits ab, anstatt mich mit Mystik und einer Aura des Geheimnisvollen zu fesseln.

Alles in allem gefällt mir das Konzept von American Gods sehr, kann aber durch Schwächen in der Handlungsstrukturierung und durch den übermäßigen Gebrauch von absichtlicher Fehllogik keinen Platz im Pantheon meiner Lieblings(hör)bücher erringen. Übrig bleibt in meinen Augen ein überdurchschnittlicher Urban Fantasy Roman für zwischendurch.

Interessante Details:

  • Es gibt einen gut versteckten Cameo Auftritt von Delirium, was darauf hindeuten könnte, dass es sich bei American Gods um die selbe Welt wie in den Sandman-Comics handelt
  • Mit Anansi Boys gibt es einen SpinOff-Roman zu den zwei Söhnen von Mr. Nancy
  • Die Geschichte von Shadow wird in den Kurzgeschichten “Monarch of the Glenn” und “Black Dog”, die jeweils Teil von verschiedenen Kurzgeschichtensammlungen Gaimans sind, weitergeführt